Calvin und der Calvinismus

Es hat sich herumgesprochen: ein Calvin-Jahr steht uns bevor. 2009 jährt sich der Geburtstag des französischen Reformators und Genfer Reformators zum 500. Mal. Diesen Anlass zu feiern heisst nun allerdings auch, sich mit einem oft negativen oder zumindest sehr ambivalenten Calvin-Bild auseinanderzusetzen: Calvin der ”žPuritaner“ (dies ist nur einer von vielen Anachronismen), Calvin, der Feind des freien Denkens und der Wissenschaft und, natürlich, Calvin, der ”žVater des Kapitalismus“ nach Max Weber: es scheint dann konsequent, ihn auch für die Ausbeutung der Natur und die ökologische Krise verantwortlich zu machen.

In den zwei Jahren vor seinem Tod hat Lukas Vischer intensiv daran gearbeitet, Calvins Verhältnis zur Schöpfung theologisch korrekt und historisch gerecht darzustellen. Er konnte mit vielen Originalzitaten sowohl aus Calvins Hauptwerk, der ”žInstitutio“, als auch aus seinen Predigten und umfangreichen Bibelkommentaren, nachweisen, dass Calvin ein ausgesprochen positives, engagiertes und uns auch heute noch herausforderndes Verständnis der Schöpfung hatte. Lukas Vischer stand mit dieser Erkenntnis nicht allein: ältere Studien über Calvins Vorsehungslehre (Pierre Marcel, Richard Stauffer, Alain Perrot), heutige Calvin-Biographen wie Bernard Cottret, aber auch der katholische, franziskanisch geprägte Autor Jean Bastaire stimmen mit dieser Analyse völlig überein. Auch sie haben Calvins feine Sensibilität für die Schöpfung und den Reichtum seines Denkens für aktuelle Fragen der Schöpfungsfrömmigkeit und der Schöpfungsverantwortung aufgezeigt. Es war ein starkes Anliegen von Lukas Vischer, diese Einsichten in das Calvinjahr 2009 einzubringen. Davon zeugt das letzte von ihm mitverantwortete Buch ”žThe legacy of John Calvin“, herausgegeben vom Reformierten Weltbund und vom John Knox Center in Genf.

Calvin 09 soll also auch ein Anlass sein, sich für die Schöpfung einzusetzen. Und das heisst: Calvin ist wichtig für ECEN!

Ich sprach von Schöpfungsfrömmigkeit und Schöpfungsverantwortung, und auf diese beiden Aspekte unseres Themas möchte ich nun näher eingehen.

Calvins Schöpfungsfrömmigkeit beruht auf der àœberzeugung, dass sich Gottes Weisheit, Güte und Macht in den Wundern der Schöpfung zeigt. Der französische Reformator sieht in der Natur ein ”žTheater von Gottes Herrlichkeit“, eine Formel, die bei ihm häufig wiederkehrt. Calvin kann in einem geradezu lyrischen Stil Himmel und Erde, Landschaften, Pflanzen und Tiere an unserem geistigen Auge vorüberziehen lassen. In der Vorrede zur Genfer Bibel spielt er an auf die Harmonie des irdischen Paradieses: ”žEs sangen die singenden Vöglein für Gott, es schrien die wilden Tiere nach ihm, die Elemente fürchteten ihn, und die Berge hallten von ihm, blinzelnd blickten Flüsse und Quellen ihn an und Kräuter und Blumen lachten ihm zu.“ (”žLes oiselets chantants chantaient”¦ - das könnte fast ein Beitrag zu einem Gedichtband zur Schöpfungsfrömmigkeit sein, wie ihn ECEN plant). Calvin weist die Vorstellung zurück, dass die Natur von blindem Zufall oder deterministischer Gesetzmässigkeit regiert würde. Auch in den kleinsten und scheinbar zufälligsten Dingen ist Gott selbst lenkend und bewahrend gegenwärtig. In seinem Kommentar zum 104. Psalm vergleicht Calvin Gott mit einem Ackerbauer, der insgeheim den Garten der Welt pflanzt und pflegt. Es ist aber auch klar, dass diese Welt vergänglich ist, dass wir in ihr Pilger sind in Erwartung der zukünftigen, neuen Schöpfung.

Damit kommen wir zum zweiten Aspekt unseres Themas, zur Schöpfungsverantwortung. Es ist richtig, dass Calvin dem Menschen einen herausragenden Platz in der Schöpfung zuweist: der Mensch steht über den anderen irdischen Geschöpfen. Das heisst nun aber für den französischen Reformator: der Mensch ist ”žwie ein Familienvater in der Welt“ (”žpère de famille dans le monde“, Genesis-Kommentar). Diese Bildsprache ist patriarchalisch, aber alles andere als zynisch: sie unterstreicht die Verantwortung des Menschen in der Schöpfung. Wir Menschen müssen für die anderen Geschöpfe sorgen. Mit einem für ihn typischen, leicht ironischen Humor zieht Calvin die Konsequenz aus diesem Status als ”žFamilienvater in der Welt“: wir Menschen müssten, genau genommen, dafür sorgen, dass alle Tiere, auch die wilden Tiere, genug zu essen haben! Wie gut, meint Calvin, dass der Schöpfer uns diese Last abgenommen hat und selber für die wilden Tiere sorgt!

Umso mehr müssen wir Gott dankbar sein. Das Motiv der Dankbarkeit ist für Calvin zentral. ”žReich, bevor wir geboren wurden“ – das ist der Status von uns Menschen in einer Schöpfung, die überall Gottes Liebe zum Leben und zur Vielfalt, seine Grosszügigkeit und seine Treue zum Ausdruck bringt. Nicht nur Dankbarkeit, auch Demut steht uns Menschen gut an. Hier sind es die weisheitlichen Schöpfungstexte der Bibel, die Calvin inspirieren. In seinem Hiobkommentar führt der Reformator aus, dass wir gar nicht bis zu Gottes Majestät aufsteigen müssen, um demütig zu werden. Die Rätsel der Schöpfung, die Tiere vor allem, lehren uns, wie klein wir sind, denn, so schreibt Calvin, ”žwir sind nicht würdig, andere Lehrer zu haben als sie“ (”žles bàªtes ”¦ sont nos maà®tresses, car nous ne sommes pas dignes d’avoir d’autres docteurs que ceux-là “).

In all dem ist Calvin ein guter Kenner der Kirchenväter und vor allem ein treuer und oft faszinierter Leser und Deuter der Bibel. So gewinnen für ihn die alttestamentlichen Aussagen zum Land und zu seiner gerechten und, wie wir heute sagen würden, ökologischen Bewirtschaftung neue Bedeutung. Den Boden fruchtbar zu erhalten, ja noch fruchtbarer an die nachfolgenden Generationen weiterzugeben, das ist für ihn klares biblisches Gebot, das er den Bestimmungen zum Sabbatjahr und Halljahr entnimmt. Auch in Kriegszeiten muss zerstörerische Gewalt Halt machen vor den Grundlagen des Lebens: das zeigt sich daran, dass im mosaischen Gese Gesetz die Obstbäume der Feinde nicht umgehauen werden dürfen.1 Calvin erlaubt das Zinsnehmen und damit die kapitalistische Wirtschaftsweise; sie muss aber sozialverträglich sein, Zins darf nicht Wucher werden, und die Grundrechte der Armen gehen vor. Calvin hat sich hierzu sehr detailliert geäussert.

In einem kleinen Beitrag ”žCalvin und die Natur“ habe ich daran erinnert, dass Calvins Schöpfungsfrömmigkeit und Schöpfungsverantwortung eine bedeutende Wirkungsgeschichte entfaltet hat. Bernard Palissy ist hier zu erwähnen mit seinen Ausführungen zu einem schonenden Umgang mit dem Land und mit seinem utopischen Gartenprojekt. Olivier de Serres begründet mit seinem ”žThéà¢tre d’agriculture“ von 1600 die moderne Agronomie – seine theologischen Argumente verraten auch den Einfluss Calvins. Guillaume Rondelet in Montpellier ist mit seinen vielen Schülern ein Pionier der modernen Naturkunde. Guillaume de Salluste du Bartas feiert in seinem Schöpfungsepos ”žLa Sepmaine“ (Die Schöpfungswoche) die Wunder und Rätsel der Schöpfung und ein bescheidenes Leben auf dem Lande. Jean de Léry schliesslich bietet uns in seinem Bericht über seinen Brasilienaufenthalt 1557/58 eine faszinierende Synthese von ethnologischer und geographischer Analyse und gläubiger Betrachtung. Mitten im Urwald, in Gesellschaft von Eingeborenen, singt er den 104. Psalm des Hugenottenpsalters; umgekehrt bewundert er den schonenden Umgang der Eingeborenen mit der Natur. Werden sie nicht, meint er, im Jüngsten Gericht aufstehen gegen die Christen aus Europa, gegen ihre Raffgier und ihren Raubbau?

Auch über das 16. Jahrhundert hinaus sind hier wichtige Einflüsse zu nennen, die mindestens indirekt mit Calvin zu tun haben. Kulturgeschichtlich wichtig ist die Entdeckung des Hochgebirges als Ort der Erhabenheit und der sozialen Harmonie im 18. Jahrhundert. Albrecht von Haller, Horace-Bénédict de Saussure und Jean-Jacques Rousseau stehen in einer Tradition, die sich von den Reformierten des 16. Jahrhunderts herleitet, auch von Calvin. Man kann überrascht sein, wie viel der Alpinismus, der Tourismus, aber auch die Naturkunde und der Naturschutz des 19. Jahrhunderts gerade diesem Milieu verdanken, sehr eindeutig in der französischen Schweiz, aber auch in Nordamerika. Im einzelnen gezeigt habe ich das am Beispiel der französisch-schweizerischen Malerfamilie Robert, die man ohne àœbertreibung zu den Vorläufern heutiger à–kotheologie zählen kann2.

Ich denke, dass von daher auch noch einmal ein anderes Licht fällt auf die berühmte Debatte, die Lynn White 1967 mit seinem Artikel ”žThe Historical Roots of Our Ecological Crisis“ ausgelöst hat. Anders als oft fälschlich behauptet wird, hatte White ja nicht die Absicht, das Christentum pauschal für die ökologische Krise verantwortlich zu machen. Er war der Sohn eines presbyterianischen Pfarrers und selbst in dieser sich von Calvin herleitenden Kirche engagiert. Er konnte sich als ”žchurchman“ bezeichnen. Whites Kritik kam von innen, nicht von aussen. Er polemisierte gegen eine bestimmte dominierende Tradition des westlichen Christentums, die die gesamte irdische Schöpfung der Herrschaft und den Zwecken des Menschen und seines technischen Fortschritts unterworfen hatte. Er plädierte stattdessen für eine Wiederaufnahme anderer Traditionen des westlichen Christentums, insbesondere der franziskanischen mit ihrer Geschwisterlichkeit der Geschöpfe. Im letzten Satz seines Artikels schlägt Lynn White vor, den heiligen Franziskus von Assisi zum Patron der Umweltbewegten, der ”žecologists“, zu machen. Das ist seither geschehen3.

Mit dieser Haltung geht White über Calvin hinaus. Und doch: war er nicht, mehr als ihm bewusst war, mit seinem Plädoyer für die Achtung vor der Schöpfung letztlich auch ein Erbe Calvins? Wenigstens die Frage ist erlaubt. Und heutige Schöpfungsfrömmigkeit und Schöpfungsverantwortung muss sich Calvins nicht schämen. Im Gegenteil.

Otto Schäfer/18.09.2008

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